Dutzendzeiler

Virtualiösität & das siebenhundertneunundvierzigste Gedicht

U-Bahnhof Giselastraße

Der Jüngling und das Mädchen am Fenster

Heute bin ich displaytrunken
Tief in ihr Profil versunken
Spürt' ihr sternenklares Schimmern
Über meine Netzhaut flimmern

Über Netz und Netz verbunden
Schwelgte ich für fast zwei Stunden

Oh nähr', treuer Akku, du weiter dies Märchen
Und still' die im Stillen behausten Begehrchen

Wohin die Geschicke uns fortan auch treiben
Sie wird ewig
In der Chronik
Meines ersten Browsers bleiben

Piste & das siebenhundertsechsundvierzigste Gedicht

Piste in Ellmau

Schneegeräusche unterm Ski

Schneegeräusche unterm Ski:
Manchmal wattig, manchmal "iieh!"

Manchmal sirrt der Schnee und schnurrt
Manchmal knirscht er leicht geknurrt

Mal unterhakend mit stapfigem Pappen
Mal widersagend per karstigem Schrappen

Mal unterläuft ihm ein quietschendes Schmatzen
Dann - oft gehäuft - nur noch garstiges Kratzen

Mal bleibt er lautlos und kühl wie ein Strich ...
Nun - das zählt als Geräusch ja nich'!

Nein, derer gibt es dann bloß acht
(Sofern ich da jetzt keinen Fehler gemacht)

Überwintern & das siebenhundertfünfundvierzigste Gedicht

Tannen an der Piste in Ellmau

Neujahrstagabend

Lieber erster Januar, du und dieses neue Jahr
Sind natürlich auch erst zwar
Sehr kurz da -
Doch gehste ma
Einen Schritt zur Seite?

Ach, dacht's mir wohl
(trotz Alkohol):
Da ist ja schon der zweite!

Man muss um vorsätzliche Sachen
Nicht immer so 'nen Aufriss machen!
Das Jahr macht nach dem Neuanfang
Ja auch so weiter wie bislang.

Schneedecke & das siebenhundertvierundvierzigste Gedicht

Piste in Ellmau

... durch die weite, weiße Welt

Der Schnee des vergangenen Jahres
Liegt noch immer in unseren Straßen
Und unter ihm schlummern die Kummer und Dinge
Die wir für Sekunden besaßen

Gezwungen unbezwungen erzählst du:
"Das schmilzt sich ja auch wieder weg!"
Doch es stemmt sich der Nacken der Schneeschicht dagegen
Mit Härte und wachsendem Dreck

Es wär' besser, wir wanderten so wie im Lied
Verließen, was uns schon verlassen
Wär' besser, wir sängen und sänken dahin
Zu vageren Jahreszeiten

Tor 12 & das siebenhundertsechsundzwanzigste Gedicht

Auf der Ilkahöhe

Überlebensstrategien regionaler Witz-Evergreens. Heute: Der Sprecherwechsel

Kennen Sie den Witze-Dino
A: Wo gehse? B: In Kino. ?
Des' Niveau zunächst noch fad is'
A: Wat läuft da? B: Quo Vadis.

Weil das Dol-Match er nicht meistert
Fragt der A den B: Wat heißtat?
Worauf jener unverzagt
Wiederrum „Wo gehse“ sagt

Jetzt sagt A statt B: In Kino.
Darob ward's ein Witze-Dino
Denn so geht es immer weiter
Sprecher: wechselnd – Stimmung: heiter

Hannover 2017 & das sechshundertzweiundachtzigste Gedicht

HannoverSlam 2017 Kulturzentrum FAUST

Dem Gefährten

Vielleicht lohnt es sich doch noch zu kämpfen
Hast das Leben zu früh du zu Boden geworfen
Benebelt von Schweiß und verzweifelten Dämpfen
Steht die Kirche noch rüstig und stur hier im Dorf, denn
Sie übersteht dich, übergeht dich
Auch der Rest der Welt, er dreht sich
So, als sei da nichts gewesen
Man hat nie von dir gelesen

Aber aus dem Fundament
Stahl ein Wer, das niemand kennt
Einen Stein

Der sei dein

Septembertiefe & das sechshundertvierundsechzigste Gedicht

Am Ammersee

Unter Stürzenden

Die Luft ist hier ein Kilo schwerer
Die Nächte fast elfmal so kalt
Hier zieht noch der Flächenbeteerer
Den Hut vor dem dräuenden Wald

Der Pfarrer fragt uns, wo es weh tut
Wir werden von jedem gegrüßt
Sind Brüder und Schwestern in Demut
Und haben für all das gebüßt

Wir schmecken lebendige Süße
Doch niemals ganz ohne Verdacht

Dir, Mutter, die herzlichsten Grüße
Ich wünsch dir 'ne bessere Nacht

Pichola See & das sechshundertfünfundvierzigste Gedicht

Pichola See Bei Uidapur

Ripostegedicht zu Erich Kästners "Maskenball im Hochgebirge"

Am Mittwoch nach Maskenball

Ab Mittwoch wär wieder was frei im Hotel
Und man freue sich auf den Besuch
Die Tanzabende vorerst zwar ohne Kapell'
Doch Schnee gäb's noch immer genug

Im Garten wär jetzt so ein Massengrab
Und auch manch totes Reh
Der Vollmond vom Maskenball nähm wieder ab
Im Gegensatz zum Schnee

Du zweifelst: "Vielleicht fahr'n wir doch nicht dorthin?
Der Hausherr heißt Erich, mein Bester ...
Ich bin in solch Vers-Tecken nich so gern drin
Denn der Mörder ist immer der Kästner!"

Shahjahanabad & das sechshunderteinunddreißigste Gedicht

Gassen von Alt Delhi

Old Delhi

Diese Gassen verbannen den Autoverkehr
Und die Neuzeit schafft's auch nur als Blitz
All die Hektik zwängt sich als ein Dogma hierher
Der Trubel hat hier seinen Sitz

Sieh dich vor, dass an dir hier kein Rattenzahn nagt
Dass kein Tandrausch zerrt dich aus der Zeit
Jeder Sprung hier rein scheint so klein, dass man ihn wagt
Man sollte nur wissen, wie weit

Von den steten Gefährten weht's keinen hier lang
Und die Enge bleibt ewiglich fremd
Man hat fast alle Balken, doch keinen Empfang
Ein Salzband bemustert dein Hemd

Forst & das sechshundertzweiundzwanzigste Gedicht

Pullacher Forst

Ripostegedicht zu "Mondnacht" von Joseph von Eichendorff.

Mondnacht bei Hausarrest

Der Eichendorff hat Hausarrest
Und einsam ist's im Wald
Heut lobt kein Vers das Blattgeäst
Als göttliche Gestalt

Die Linde rauscht bedeutungslos
Der Linda droht das Gleiche
So all des Sinnens Schwere bloß
Ohn' Dorffpatron der Eiche

Die Vögel weiten - nur zum Test
Die seelenlosen Flügel
Und alle finden Hausarrest
Viel grauslicher als Prügel

- Mehr Gedichte über Pflanzen und Natur -

Seiten

RSS - Dutzendzeiler abonnieren